Aus dem Jahr 1827 stammt
Wilhelms Hauffs Erzählung
Die Bücher und die Lesewelt, eine überraschend aktuelle Satire auf Buchmarkt und Literaturbetrieb. In der Episode "Die Leihbibliothek" erleben wir den Ich-Erzähler im Gespräch mit einem Bibliothekar; man spottet ein wenig über den Geschmack des Publikums und staunt über Walter Scotts enormen Erfolg:
„So ist es denn wahr", sprach ich, „daß die Werke dieses Briten beinahe so verbreitet sind als die Bibel, daß alt und jung und selbst die niedrigsten Stände von ihm bezaubert sind?"
„Gewiß, man kann rechnen, daß allein in Deutschland sechzigtausend Exemplare verbreitet sind und er wird täglich noch berühmter. In Scheerau hat man jetzt eine eigene Übersetzungsfabrik angelegt, wo täglich fünfzehn Bogen übersetzt und sogleich gedruckt werden."
„Wie ist das möglich?"
„Es scheint beinahe so unmöglich, als daß Walter Scott diese Reihe von Bänden in so kurzer Zeit sollte geschrieben haben, aber es ist so, denn erst vor kurzer Zeit hat er sich öffentlich als Autor bekannt; die Fabrik habe ich aber selbst gesehen."
„Wird vielleicht durch Verteilung der Arbeit Zeit gewonnen?" fragte ich.
„Einmal dies", entgegnete er, „und sodann wird alles mechanisch betrieben; der Professor Lux ist sogar gegenwärtig beschäftigt eine Dampfmaschine zu erfinden, die Französisch, Englisch und Deutsch versteht, dann braucht man gar keine Menschen mehr. Die Fabrik ist aber folgendermaßen beschaffen: Hinten im Hof ist die Papiermühle, welche unendliches Papier macht, das schon getrocknet wie ein Lavastrom in das Erdgeschoß des Hauptgebäudes herüberrollt; dort wird es durch einen Mechanismus in Bogen zerschnitten, und in die Druckerei bis unter die Pressen geschoben. Fünfzehn Pressen sind im Gang, wovon jede täglich zwanzigtausend Abdrücke macht. Nebenan ist der Trockenplatz und die Buchbinderwerkstätte. Man hat berechnet, daß der Papierbrei, welcher morgens fünf Uhr noch flüssig ist, den andern Morgen um eilf Uhr, also innerhalb dreißig Stunden, ein elegantes Büchlein wird. Im ersten Stock ist die Übersetzungsanstalt. Man kömmt zuerst in zwei Säle; in jedem derselben arbeiten fünfzehn Menschen. Jedem wird morgens acht Uhr ein halber Bogen von W. Scott vorgelegt, welchen er bis Mittag drei Uhr übersetzt haben muß. Das nennt man dort, ,aus dem Groben arbeiten'. Fünfzehn Bogen werden auf diese Art jeden Morgen übersetzt. Um drei Uhr bekommen diese Leute ein gutes Mittagsbrot. Um vier Uhr wird jedem wieder ein halber Bogen gedruckte Übersetzung vorgelegt, die durchgesehen und korrigiert werden muß."
„Aber was geschieht denn mit den übersetzten Bogen vom Vormittag?"
„Wir werden es sogleich sehen. An die zwei Säle stoßen vier kleine Zimmer. In jedem sitzt ein Stilist und sein Sekretär; Stilisten nennt man dort nämlich diejenigen, welche die Übersetzungen der dreißig durchgehen und aus dem Groben ins Feine arbeiten; sie haben das Amt, den Stil zu verbessern. Ein solcher Stilist verdient täglich zwei Taler, muß aber seinen Sekretär davon bezahlen. Je sieben bis acht Grobarbeiter sind einem Stilisten zugeteilt; sobald sie eine Seite geschrieben haben, wird sie dem Stilisten geschickt. Er hat das englische Exemplar in der Hand, läßt sich vom Sekretär das Übersetzte vorlesen und verbessert hier oder dort die Perioden. In einem fünften Zimmer sind zwei poetische Arbeiter, welche die Mottos über den Kapiteln und die im Text vorkommenden Gedichte in deutsche Verse übersetzen."
Ich staunte über diesen wunderbaren Mechanismus und bedauerte nur, daß die dreißig Arbeiter und vier Stilisten notwendig ihr Brot verlieren müssen, wenn der Professor Lux die Übersetzungsmaschine erfindet.
„Gott weiß, wie es dann gehen wird", antwortete der kleine Mann; „schon jetzt kostet das Bändchen in der Scheerauer Fabrik nur einen Groschen; in Zukunft wird man zwei Bändchen um einen Silbergroschen geben und alle vier Tage wird eines erscheinen."
Überhaupt scheint den deutschen Bildungsbürger der damaligen Zeit die Sorge umzutreiben, der Buchmarkt könne mit ausländischem Schund überschwemmt werden, während die deutsche Hochliteratur unbeachtet bleibt. Eben jener Wilhelm Hauff etwa schreibt in seiner Polemik
Die teutschen Übersetzungsfabriken:
Meisterwerke eines fremden Volkes seiner eigenen Sprache würdig und schön anzupassen, ist eine ehrenwerte Sache; die Schmach muß also anderswo liegen; und sie liegt offenbar in der Art und Weise wie man gegenwärtig Übersetzungen fabrikmäßig ausarbeitet.
[...]
Aus ihren Fabriken gehen Bücher hervor, die man wegen der Inkorrektheit ihres Stils nicht ohne Ekel lesen kann. Wie Drachen scheinen sie den Kontinent und die britische Insel zu bewachen, und wo etwas auftaucht, dessen Titel nur entfernt von einigem Interesse scheint, decken sie schnell die Hand darauf und schreien: „Halt! das laß ich übersetzen!"
Und auch der Schriftsteller und Journalist
Karl Gutzkow schreibt 1839 in einer wütenden Anklage unter
ähnlichem Titel:
Die Wurzel und die eigentliche Quelle des erschreckend in unsrer neuesten Literatur zunehmenden Übersetzungsunwesens sind nicht die armen Hungerleider von Literaten, die für ein Dürftiges jene Sündfluth fremder Belletristik Tag und Nacht übersetzen, sondern die Buchhändler, die, vom Spekulationsteufel besessen, ihr eigenes Kapital, das Lesebedürfniß der Masse und die Interessen der Literatur in den unnützesten Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen verschwenden.
Aber die Zeiten ändern sich ja und zum Glück ist das heute alles ganz anders.
Und wenn Sie sich jetzt fragen, welch seltsame Sprache das ist - der Autor erklärt es:
[Autor unbekannt]
Begriffe der matematiker. Forwort zur darstellung des ferhältnisses, in dem di seiten am menshen, tire, gewäxe und steine stehen, und des so erhaltnen begriffes fom bau des menshen, tires, gewäxes und steines. Riga und Leipzig, 1868. In Riga bei Edmund Götschel, in Leipzig bei K. F. Köhler. Der Preis beträgt in Leipzig 2/5 taler.
"He, du alter Wasserhahn! He, du alter Löwenlöwe! He, du alter Seepferdchenpopo!"
Bei Väterbeschimpfungen ist der Zwerg erstaunlich kreativ.
Entdeckt: Zwei fantastische Bildbände von
Jörg Otto Meier, einem Hamburger Künstler und Fotografen. Beide Bücher sind leider nur noch antiquarisch erhältlich.
"Von Menschen und großen Pötten" zeigt Porträts und erzählt Geschichten von Hafenmenschen, von
Kapitänen und Festmachern, von der
Fischbraterin und dem Reeder. Die Geschichten, schreibt Meier,
"entwickelten sich frei aus der jeweiligen Situation, wurden im O-Ton aufgezeichnet und mit den Porträtierten abgestimmt." Und so lesen sie sich auch, lebendig und vielfältig, voller Charme und überraschender Episoden.
Von Menschen und großen Pötten, 300 Seiten, Auflage 5000, Dölling und Galitz Verlag, 1996
[zvab]
Beinahe ohne Text kommt das zweite Buch aus. Dennoch steckt es voller Geschichten. Meier porträtiert die Bewohner St. Paulis und leicht könnte daraus eine Freakshow werden, doch Meier entgeht dieser Gefahr und zeigt stattdessen die Menschen in ihrer ganzen Vielfalt, die "Liebesdamen" ebenso wie die Klempner, die Ärzte, die Koberer und auch die Postboten. Respektvoll tut er das und mit Wärme.
Die Würde dieser Menschen. St. Pauli-Portraits. 77 Photographien in Kupfertiefdruck, 84 Seiten, Auflage 4000, Greno-Verlag, 1987
[zvab]